Frau Professorin Melanie Messer ist Mitglied des neu berufenen Sachverständigenrats (SVR) "Gesundheit & Pflege" (SVR). Gemeinsam mit Professor Jonas Schreyögg wurde Messer zur stellvertretenden Vorsitzenden des SVR gewählt. Als Wissenschaftlerin im Bereich "Pflege" widmet sie sich insbesondere diesem Feld der Gesundheitsversorgung. In einem Interview sprachen wir mit der Professorin über Themen, die aktuell in der Pflege von wesentlicher Bedeutung sind, wie etwa darüber, wie dem Fachkräftemangel begegnet werden kann, wie sie die Leiharbeit in diesem Tätigkeitsfeld einordnet und welche Chancen sie in der Digitalisierung sieht.

TK: Frau Professorin Messer, nach den Professorinnen Gabriele Meyer, Doris Schaeffer und Adelheid Kuhlmey sind Sie die vierte Wissenschaftlerin, die für den Bereich Pflege in den Sachverständigenrat berufen wurde. Wie bewerten Sie diese Berufung und was bedeutet diese für Sie? Welche Ziele verbinden Sie mit der Möglichkeit, Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat nun beraten zu können?

Prof. Dr. Melanie Messer: Wir stehen in der Gesundheitsversorgung vor komplexen Herausforderungen und großen Umbruchprozessen. Grundlage für fundierte Empfehlungen des Sachverständigenrats zur Weiterentwicklung des Gesundheitssystems ist eine differenzierte Analyse der Ausgangslage. Eine der großen Stärken des Sachverständigenrats ist dabei die interdisziplinäre Zusammensetzung und dazu gehört auch die Pflege. Pflege ist ein integraler Bestandteil interdisziplinärer Gesundheitsversorgung in allen Versorgungssettings. Mein Schwerpunkt liegt besonders auf einer patientenzentrierten Versorgung mit Fokus auf der Sicherung und Weiterentwicklung einer hohen Versorgungsqualität.

Prof. Dr. Melanie Messer

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Universität Trier

Im Mittelpunkt steht eine moderne, zukunftsorientierte Pflege von hoher Qualität, die an den Bedarfen der Bevölkerung ausgerichtet ist und sich in der klinischen Versorgung und Forschung im internationalen Vergleich messen kann sowie einen wesentlichen Beitrag zu einer innovativen Gesundheitsversorgung leistet - von der Prävention und Gesundheitsförderung, über die kurative und Langzeitversorgung bis hin zur Palliativversorgung in der letzten Lebensphase. Ich freue mich sehr, mich mit meiner Expertise einzubringen und in Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedern des Sachverständigenrats Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beratend zu unterstützen. 

TK: Das erste SVR-Gutachten soll sich mit der Fachkräftesituation beschäftigen. Ein wichtiges Thema, bedenkt man die Tatsache, dass eine ausgebildete Kraft in der Altenpflege nur durchschnittlich 8,4 Jahre - in der Krankenpflege 13,7 Jahre - in ihrem Job verbleibt. Zudem übt weit mehr als die Hälfte der Pflegekräfte ihren Beruf nur in Teilzeit aus. Was sind ihre ersten Einschätzungen im Hinblick auf das Gutachten, das der Bundesgesundheitsminister in Auftrag gegeben hat?

Prof. Messer: Das Gutachten greift ein hochaktuelles Thema auf, das zentral ist, um langfristig eine bedarfsgerechte, qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Die Personalsituation in der Pflege ist in allen Sektoren kritisch. Diese ungünstige Entwicklung hat sich bereits vor der COVID-19-Pandemie über lange Zeit angebahnt und schreibt sich nun verschärft fort. Auf der einen Seite wird der demografische Wandel voraussichtlich mit einem Anstieg der Versorgungsnachfrage verbunden sein und zudem werden die Versorgungsbedarfe z. B. bei chronischen Erkrankungen und Multimorbidität zunehmend komplexer.

Weiterhin besteht der Anspruch, dass das Gesundheitssystem zukünftig resilienter auf akute Krisensituationen reagieren kann, wie das letzte Gutachten des SVR Gesundheit & Pflege aufgezeigt hat. Auf der anderen Seite geht das Erwerbskräftepotenzial zurück. Zudem gelingt es bereits jetzt nicht, in ausreichendem Maße Pflegefachpersonen für den Beruf zu gewinnen und sie langfristig zu halten. Dabei steht Deutschland mit seiner Situation nicht allein da. Dieses Phänomen zeigt sich weltweit in dramatischer Dimension. Die WHO spricht hier mit Blick auf den Engpass an Pflegefachpersonen von einer alarmierenden Krisensituation und fordert zum Handeln auf. Es gilt hier nun sorgsam zu analysieren, wie diesen Entwicklungen begegnet werden kann, um zukünftig eine bedarfsgerechte, qualitativ hochwertige Versorgung sicherzustellen. 

TK: Aktuell wird das Thema "Leiharbeit in der Pflege" kontrovers diskutiert. Die rheinland-pfälzische Pflegekammer beispielsweise geht davon aus, dass die Reduzierung von Leiharbeit zu mehr Qualität und Kontinuität in der Pflege führen könnte. Wie sehen Sie das?

Prof. Messer: Die Situation ist äußerst paradox. Ursprünglich war das Instrument Leiharbeit hilfreich, ausnahmsweise kurzzeitige Engpässe in der Personalbesetzung und Belastungsspitzen zu überbrücken. Für manche Einrichtungen ist es jedoch zu einer Dauerlösung geworden, um den Regelbetrieb gewährleisten zu können und z. B. Bettenschließungen abzuwenden. 

Leiharbeit kommt immer dort zum Einsatz, wo es in besonderem Maße an Personal fehlt. Also z. B. dort wo ein hoher Krankenstand oder auch eine hohe Personalfluktuation herrschen, wenn offene Stellen nicht schnell genug besetzt werden können oder auch, um Kapazitäten für Urlaub bei der Stammbelegschaft zu schaffen. In betroffenen Teams liegt dann häufig bereits eine sehr hohe Arbeitsbelastung und angespannte Stimmung vor. In der Leiharbeit können Mitarbeitende zudem bessere Beschäftigungsbedingungen verhandeln als in Festanstellungen, z. B. eine höhere Vergütung und Festlegung von Diensteinsatzzeiten (z. B. keine Nacht- und Wochenenddienste).

Da Mitarbeitende der Leiharbeit zumeist nur kurze Zeit in einer Einrichtung eingesetzt sind, besteht eine höhere Gefahr, dass sie interne Abläufe und Qualitätsstandards nicht ausreichend kennen. Auch kann so die Kontinuität in der Beziehungsarbeit mit Patientinnen und Patienten, in der Krankenbeobachtung und der Teamarbeit nicht sichergestellt werden. Mitunter fehlen Nachweise in spezifischen pflegefachlichen Kenntnissen z. B. im Notfallmanagement. Die erforderliche Kompensation durch das Stammpersonal erhöht dessen Belastung zusätzlich und schürt Unzufriedenheit und Konflikte in der Stammbelegschaft. 

Bei der Suche nach nachhaltigen Lösungen lohnt es sich auch die Gründe von Pflegefachpersonen zu betrachten, die in Leiharbeitsverhältnisse wechseln. Zumeist führen sie eine hohe Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen in Festanstellung an. Ein zentraler Ansatzpunkt sollte meines Erachtens daher die Verringerung der Ungleichbehandlung von Mitarbeitenden der Leiharbeit und des Stammpersonals sein, indem Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen verbessert und Teams in der Zusammenarbeit gestärkt werden. Dazu gehören z. B. zuverlässige Dienstpläne, die Einhaltung arbeitsfreier Zeit, die Verbesserung der Verdienstmöglichkeiten, eine höhere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zeitgemäße Führungskompetenzen bei Leitungspersonen und ein unterstützendes Teamklima. Qualitätsanreize im Bereich der Leiharbeit und die Sicherstellung der Einhaltung von Qualifikationsanforderungen bei Mitarbeitenden der Leiharbeit können eine weitere Säule sein. Darüber hinaus müssen weitere systemische Ursachen, die dieser Situation zugrunde liegen, genau betrachtet werden.

TK: Wir haben ja auch einen Mangel an Ärztinnen und Ärzten. Daher ist das Thema der Delegation oder gar Substitution ärztlicher Aufgaben an die Pflege ein wichtiges Thema. Wie beurteilen Sie diesen Themenkomplex?

Prof. Messer: Ein Mangel an Ärztinnen und Ärzten sollte aus meiner Sicht nicht der alleinige Antrieb sein, um das Thema der Delegation und Substitution von Aufgaben an die Pflege zu betrachten. Zentraler Ausgangspunkt sollten vielmehr die sich wandelnden Versorgungsbedarfe und -anforderungen in der Bevölkerung sein und die Frage, wie diese künftig mit höchstmöglicher Qualität effizient gedeckt werden können. Hierfür müssen wir die sinnvolle Verteilung von Aufgaben zwischen den Gesundheitsberufen, orientiert an deren Kompetenzen, und auch die Weiterentwicklung von Aufgabenfeldern neu denken.

Ein aktuelles Beispiel sind die in vielen Ländern etablierten Community Health Nurses, welche im Rahmen der Primärversorgung an der Sicherstellung einer wohnortnahen Gesundheitsversorgung und -förderung verantwortlich mitwirken. Dabei übernehmen hochschulisch qualifizierte Pflegefachpersonen mit einer höheren Handlungsautonomie selbständig heilkundliche Tätigkeiten oder sind auch im Sinne eines Public Health Nursing in der Förderung und des Schutzes der Gesundheit von Bevölkerungsgruppen aktiv. Dafür braucht es ein interprofessionelles Zusammenwirken von Ärztinnen bzw. Ärzten und Pflegefachpersonen auf Augenhöhe.

Im Resultat sollte eine bedarfsgerechte Versorgung von hoher Qualität für Patientinnen und Patienten gesichert sein und sich für Ärztinnen bzw. Ärzte als auch Pflegefachpersonen die Arbeitsprozesse effizienter gestalten sowie die Attraktivität beider Berufsbilder erhöhen. International werden diese Wege längst beschritten. Hier zeigt sich, dass die Versorgungsqualität dabei erhalten bleibt. Studienergebnisse weisen darauf hin, dass die Substitution von Aufgaben durch Pflegende vergleichbare, teilweise bessere Ergebnisse erzielt.

TK: Welches Potential sehen Sie in der Digitalisierung, um die Pflege besser und effizienter zu machen?

Prof. Messer: Digitalisierung kann einen wesentlichen Beitrag leisten, um die Qualität und Patientensicherheit in der pflegerischen Versorgung zu verbessern. Für Patientinnen und Patienten sowie deren An- und Zugehörige liegen die Potentiale u. a. in einer verbesserten Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von Versorgungsangeboten, erleichtertem Zugang zu Informationen, Beratung und Anleitung, einer besseren Steuerung von Wartezeiten, in der Vernetzung mit anderen Betroffenen sowie in der Beschleunigung von Antragsverfahren. Auch zur Weiterentwicklung und Etablierung neuer pflegerischer Versorgungsformen kann Digitalisierung beitragen, z. B. im Bereich Telepflege und technische Assistenzsysteme sowie in digitalen Gesundheits- und Pflegeanwendungen. Für Gesundheitsberufe, wie Pflegefachpersonen, finden sich vielfältige Möglichkeiten durch Digitalisierung Arbeitsprozesse effizienter zu gestalten, z. B. durch die Standardisierung und Beschleunigung von Dokumentation und automatisierten Frühwarnsystemen. Zugleich entstehen hier neue Möglichkeiten in der interprofessionellen und -sektoralen Zusammenarbeit, aber auch im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Bislang kaum genutzte Potentiale der Digitalisierung für die Pflege liegen in der besseren Analysierbarkeit von Prozessen und Ergebnissen, die digital in standardisierter Weise erhoben wurden sowohl zum Versorgungsmonitoring als auch zu Forschungszwecken. Hierfür benötigen wir zukünftig eine bessere Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von Daten.

Um das volle Potential der Digitalisierung im Bereich der Pflege nutzen zu können, müssen die grundlegenden Voraussetzungen geschaffen werden. Dazu gehören eine abgestimmte Zielsetzung und Gesamtstrategie im Gesundheitssystem mit einem entsprechenden Aufbau an Infrastruktur unter Einbezug pflegerischer Versorgung in den verschiedenen Sektoren. Zentral ist hier die Interoperabilität, also die Ermöglichung von Schnittstellen zwischen Systemen und Einrichtungen bzw. Versorgungssektoren, sowie die Datenverfügbarkeit. Für die Pflege ist insbesondere die Nutzung international anerkannter Standards und einheitlicher Klassifikationssysteme von zentraler Bedeutung und eine große Zukunftsaufgabe, um eine strukturierte und vergleichbare Datenerfassung zu ermöglichen. Weitere Herausforderungen liegen in den Fragen der Refinanzierung und der Verfügbarkeit von IT-Experten in den Einrichtungen. 

Eine weitere zentrale Voraussetzung ist die Stärkung der digitalen Gesundheitskompetenz bei Patientinnen bzw. Patienten sowie An- und Zugehörigen, bei Bürgerinnen bzw. Bürgern, aber auch beim Pflegepersonal und im Rahmen von gesundheitskompetenten Organisationen. So ist die Frage der Qualifizierung ein grundlegendes Erfordernis, damit Digitalisierung und neue Technologien überhaupt ihren Nutzen entfalten können. Pflegefachpersonen werden hier zukünftig nicht nur selbst im kompetenten Umgang mit Digitalisierung gefragt sein. Ihnen kommt zugleich eine Vermittlungsrolle zu, in der Information, Beratung und Schulung auf die personale digitale Gesundheitskompetenz von Patientinnen bzw. Patienten einzugehen und sie entsprechend zu fördern und zu unterstützen. Auf diese Aufgabe müssen Pflegefachpersonen bereits ab der Ausbildung bzw. dem Studium vorbereitet werden. In unseren Untersuchungen sehen wir, dass hier noch Verbesserungsbedarf besteht.
Ein weiteres Erfordernis, um die Potentiale der Digitalisierung voll ausschöpfen zu können, sind nutzerzentrierte Entwicklungsprozesse, welche die Bedarfe und Gebrauchstauglichkeit (Usability) für unterschiedliche Zielgruppen in den Vordergrund stellen. Nicht alles, was technisch machbar ist, ist tatsächlich auch nützlich, um Versorgungsprozesse und -ergebnisse zu verbessern. Nicht zu unterschätzen in diesem Kontext ist die Notwendigkeit der Evidenzbasierung digitaler Tools und die Untersuchung der Wirksamkeit auf patientenrelevante Outcomes.

Zur Person 

Prof. Dr. Melanie Messer ist Professorin für Pflegewissenschaft an der Universität Trier und leitet dort die Abteilung Pflegewissenschaft II. Zuvor war sie am Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) in Berlin tätig, dort zuletzt als Leitung des Stabsbereichs Patientenbelange. Sie arbeitete außerdem an der Universität Bielefeld und am Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). An der Frankfurt University of Applied Sciences absolvierte sie ein Diplomstudium der Pflege. Zudem ist sie ausgebildete Gesundheits- und Krankenpflegerin. Ein Masterstudium in Public Health und Pflegewissenschaft schloss sie an der Universität Bremen ab. Promoviert hat sie in Public Health an der Universität Bielefeld.